Tom Zwiessler: „Mein Herz brennt für Dokus”

Von Nina Brandtner

Senderchef Tom Zwiessler will RTLZWEI zur Anlaufstelle für Doku-Talente machen / Foto: RTLZWEI

Reality-Entertainment ist nach wie vor inhaltlicher Schwerpunkt von RTLZWEI – doch der Privatsender aus Grünwald bei München will mehr. Mit dem Doku Lab geht das Unternehmen auch im Journalismus neue Wege. Programmchef Tom Zwiessler verrät im Interview, wieso RTLZWEI Kreative aus dem Dokumentarfilm anlocken will, wie eine Reality-TV-Show 2021 erfolgreich wird und welches Format der Konkurrenz er selbst am liebsten schaut.

Herr Zwiessler, mit welcher Strategie startet RTLZWEI in die Herbst- & Wintersaison?

Tom Zwiessler: Wenn wir an der Programmstrategie arbeiten, stellen wir uns zwei Fragen: Was gibt es Neues an Ideen im Markt, international, aber auch von unseren Partnern? Und was beschäftigt die Zuschauer:innen? Vor allem Letzteres war für uns leitend dieses Jahr. Die Corona-Pandemie war ein tiefer Eingriff in alle Lebensbereiche. Darauf wollen wir mit unserem Programm reagieren. Gewisse Beobachtungen, die jeder gemacht hat, finden sich im Programm wieder.

Welche Beobachtungen sind das?

Zwiessler: Man weiß den Wert menschlicher Begegnungen wieder stärker zu schätzen. Und man hat verstanden, dass man nur durch Krisen kommt, wenn man zusammenhält. Bestimmte soziale Berufe erfahren mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung. Natur wurde als Rückzugsraum neu entdeckt, und Spaß und Eskapismus haben in der Unterhaltung einen neuen Stellenwert bekommen.

Welche Formate planen Sie für die neue Season?

Zwiessler: Im Bereich Spaß und Eskapismus werden wir unsere Entertainment- Leuchttürme weiter ausbauen: „Love Island”, „Kampf der Realitystars” und „Adam sucht Eva”. Das sind für uns nicht nur Fernsehformate, sondern Projekte, die wir über unsere Multichannel-Strategie auf allen für die Zuschauer:innen relevanten Kanälen erzählen. Bei „Love Island“ hatten wir bei der vergangenen sechsten Staffel zusammen rund 80 Millionen Video Views auf allen Digitalplattformen. Neue Formate gibt es auch in den Themenbereichen „Retter und Alltagshelden”, „Wohnen und DIY”, „Reisen und Camping” und „Leben auf dem Land”.

Ich wünsche mir, dass wir als RTLZWEI stärker zur Anlaufstelle für die Top-Kreativen im Doku-Genre werden.“

Planen Sie auch Inhalte mit Überraschungsfaktor, die man so noch nicht bei RTLZWEI gesehen hat?

Zwiessler: Wir holen „Race Across the World” nach Deutschland. Das ist eine völlig neue Programmfarbe für RTLZWEI. Wir haben zum ersten Mal ein Format, in dem es um Weltreisen geht. Fünf Couples begeben sich in einem Wettbewerb auf einen Trip von Deutschland nach Asien – ohne Flugzeug, Handy, und Kreditkarte. Auch überraschend: Die „GRIP Promi Kart Masters”. Wir gehen mit Grip, unserer verlässlichen Magazin-Marke, erstmals in die Prime Time. In einem Live-Event werden wir unsere RTLZWEI-Promis in ein Rennen über zwei Tage schicken. Am Start sind die Geissens, die Wollnys, Darsteller aus „Berlin Tag & Nacht” usw. Wir freuen uns außerdem sehr, dass die Kelly-Family mit uns ein Programm entwickelt. Wir werden sie auf einer sehr emotionalen Reise mit ihrem alten Tourbus erleben, bei der viele der Geschwister zusammenkommen. Was mich persönlich sehr freut: Wir haben gerade an Halloween die Kultmarke „X-Factor” wiederaufleben lassen, zum ersten Mal mit deutschen Originals. Jonathan Frakes, der Original-Moderator, hat sie moderiert.

Welches Format würden Sie sich noch ins Programm von RTLZWEI wünschen?

Zwiessler: Mein Herz brennt für Dokus. Da wollen wir auch mehr machen. Ich wünsche mir, dass wir als RTLZWEI stärker zur Anlaufstelle für die Top-Kreativen in diesem Genre werden. Das ist einer der Gründe, warum wir das „Doku Lab“ initiiert haben. Wir wollen eine stärkere Netzwerkbasis mit Kreativen, die uns nicht auf dem Zettel haben, weil sie RTLZWEI nicht mit den großen Dokumentarfilmen verbinden. Wir hatten vor Kurzem eine Masterclass mit Christian Beetz, dem preisgekrönten Dokumentarfilmer. Das war ein toller Austausch und ich spüre: Da geht noch mehr.

Modernes Doku-TV muss sehr unterhaltsam sein. Es sollte das Publikum catchen, darf aber nicht nur auf Effekte setzen.“

Mit dem Doku Lab will RTLZWEI Dokumentationen im Entstehungsstadium fördern. Was erhoffen Sie sich abgesehen von einem größeren Netzwerk von dem Projekt?

Zwiessler: Wir wollen einen Beitrag leisten für den Doku-Journalismus in Deutschland. Die Anfangsphase in der Entstehung eines Dokumentarfilms ist eine Grauzone. Kreative Einzeltalente, gerade wenn sie jung sind, können es sich kaum leisten, massiv in die Recherche zu gehen, die auch mal ein Jahr dauert – für ein Projekt, das noch nicht beauftragt ist. Für diese Phase haben wir das Doku Lab initiiert, weil wir hoffen, dass dadurch neue Projekte entstehen, die es sonst nicht geben würde. Und auch wir als RTLZWEI wollen ein wenig aus unserer Bubble raus. Deswegen freuen wir uns über Partner wir das MedienNetzwerk Bayern und das Medienboard Berlin-Brandenburg.

Wie sieht modernes Doku-TV in Ihren Augen aus?

Zwiessler: Modernes Doku-TV muss sehr unterhaltsam sein. Es sollte das Publikum catchen, darf aber nicht nur auf Effekte setzen. Doku-TV muss unterfüttert sein mit einer substanziellen Recherche, aber dennoch spektakulär aufbereitet sein, sonst schafft man es nicht, durchzudringen und sein Publikum zu finden.

Warum erleben wir aktuell so viel Begeisterung für das Genre?

Zwiessler: Bisher waren Dokumentationen primär eine Domäne der öffentlich-rechtlichen Sender. Das hat sich durch die Streamer geändert, die internationale Dokus für ein junges Publikum zugänglich gemacht haben. Ähnlich wie bei Podcasts ist da eine große, neue Nachfrage entstanden. Deshalb engagieren sich die Privatsender nun stärker. Auch wir.

„Der Bedarf an Personal im Reality-Genre ist riesig. Wir haben in Deutschland mittlerweile Personalknappheit auf Produktionsseite.

Von Dokus zu Reality-Entertainment: Sat.1 setzte dieses Jahr nach großer Kritik erst „Plötzlich arm, plötzlich reich”, dann „Promis unter Palmen” ab. Droht RTLZWEI-Formaten ein ähnliches Schicksal?

Zwiessler: Nein. Aber wir sind noch einmal sensibilisiert worden durch die Debatte. Das war ein Anstoß, unsere redaktionellen Leitlinien anzuschauen und zu aktualisieren. Wir haben bereits gute Mechanismen, um unsere Protagonisten zu schützen. Wenn wir z.B. in unseren Sozial-Dokumentationen Kinder vor der Kamera haben, gibt es immer einen sehr intensiven Austausch mit dem Jugendschutz, intern in der Redaktion und teilweise mit externen Psychologen. Wir diskutieren in jedem Einzelfall: Was kann man verantworten und was nicht? Ob Dokus oder Entertainment: Wir als Realitysender lieben Menschen und wollen sie nicht in die Pfanne hauen. Wir möchten mit ihnen lachen und nicht über sie. Häme und Diskriminierung haben bei uns keinen Platz.

Was braucht eine Reality-TV-Show, um 2021 erfolgreich zu sein?

Zwiessler: Einen sehr starken Formatkern, also einen USP, der auf den ersten Blick zu erkennen ist. Bei „Love Island“ ist ganz klar: Das sind attraktive junge Singles, die sich in einer Traumlocation treffen und sich verlieben wollen, und wir dürfen live zuschauen. Näher und intensiver geht nicht, das ist ein ganz klares Formatversprechen. Man braucht auch einen starken Cast, Menschen, die ihre Gefühle vor der Kamera zeigen, mit denen man mitfiebern und mitleiden kann, fast wie im aristotelischen Drama. So funktioniert Reality-TV. Was wir nicht wollen, sind konstruierte Konflikte.

Außerdem braucht man ein brillantes Team. Das ist gar nicht so leicht, weil der Bedarf in diesem Genre riesig ist. Wir haben in Deutschland mittlerweile Personalknappheit auf Produktionsseite. Bei „Love Island“ sind rund 160 Menschen hinter der Kamera unterwegs, die muss man erst mal bekommen.

Thilo Mischke ist für mich einer der interessantesten Reporter und Hosts, die wir gerade im deutschen Fernsehen haben.

Welches Reality-Format schauen Sie selbst am liebsten?

Zwiessler: Das ist zwar nicht mein favorisiertes Genre, aber „Love Island“ schaue ich wirklich gerne. Ich bin seit Staffel 1 mit dabei und amüsiere mich jedes Mal darüber. Das ist mein Guilty Pleasure. Was dokumentarisches Fernsehen angeht: Bei uns ist „Hartz und herzlich”, die Mannheimer Staffeln, für mich ein echtes Lieblingsformat. Bei der Konkurrenz schaue ich gerne Thilo Mischke auf Prosieben. Das ist für mich einer der interessantesten Reporter und Hosts, die wir gerade im deutschen Fernsehen haben. Man spürt, dass er echt neugierig ist, Menschen nicht in Schubladen steckt oder vorgefasste Meinungen hat. Diese Haltung ist auch unser Anspruch.

Die Reality-Formate „Liebe macht blind” und „Too Hot to Handle” von Netflix haben auch in Deutschland Erfolg. Macht Ihnen die internationale Konkurrenz von Streaming-Riesen Sorgen?

Zwiessler: Erst mal zeigt es, dass Reality-TV ein Trend-Genre ist. Direkt eine Sorge bereiten mir diese Beispiele nicht. Bei RTLZWEI stricken wir rund um unsere Highlight-Entertainment-Formate Multichannel-Konzepte, zu denen neben Social Media auch eigene Apps gehören. Das hängt fest mit der linearen Ausstrahlung zusammen. Wir bieten den Zuschauer:innen auf diese Weise quasi ein Live-Event mit Interaktion. Das kann ein reiner Streamer nicht. Aber es wäre blind zu sagen, wir nehmen die Konkurrenz nicht ernst. Deswegen bauen wir das Engagement bei unserem Streaming-Partner TVNOW massiv aus.

Wir spüren, dass sich die Menschen sowohl in der Pandemie als auch in einer stärker politisierten Zeit sehr für nationale Inhalte interessieren – für die journalistischen und die rein unterhaltenden.

Was haben lineare Sender den Streaming-Plattformen voraus?

Zwiessler: Es sind unterschiedliche Sehbedürfnisse, ob ich mich hinsetze und auf der Streaming-Plattform Inhalte raussuche, oder ob ich mich zurücklehne und schaue, was beim Sender so läuft. Und es sind andere Inhalte. Ich sehe aktuell bei den US-Streamern nur sehr wenig Journalismus, der sich rein auf Deutschland bezieht. Den wird es auch absehbar nicht geben. Sobald man national große Redaktionen aufbauen muss oder wie wir Langzeit-Beobachtungen sehr deutscher Milieus macht, ist das für Streamer weniger attraktiv. Da funktioniert die weltweite Verwertung nicht. Das ist die Art von Inhalt, mit dem die linearen Sender weiterhin hochrelevant bleiben. Wir spüren, dass sich die Menschen sowohl in der Pandemie als auch in einer stärker politisierten Zeit sehr für nationale Inhalte interessieren – für die journalistischen und die rein unterhaltenden.  

Was schätzen Sie am Medienstandort Bayern?

Zwiessler: Wir haben in Bayern sehr viele Sender, aber auch die Münchner Filmhochschule und die von der Politik geförderten Einrichtungen. Das ist extrem wichtig für den Standort und da hat sich gerade München enorm entwickelt. Die Region ist viel mehr als früher zum Networking-Space geworden. Das ist wichtig, weil Talente immer dahin gehen, wo andere auch sind. Wie Magneten ziehen sie sich an. Das ist für uns ein entscheidender Punkt, weil der Wettbewerb um das beste Personal für TV-Produktionen heute härter ist denn je.

Eun-Kyung Park verantwortet bei Disney die TV-Sender, die Anzeigenverkäufe und den Streamingdienst Disney+. Im Interview über die Herausforderung von Launches aus dem Homeoffice, die Vorteile des Standorts Bayern und was sie selbst gerne schaut.

Mehr von XPLR: MEDIA in Deinem E-Mail-Postfach

Der Newsletter von XPLR: MEDIA in Bavaria zeigt Dir, wie innovativ der Medienstandort Bayern ist. Join the innovators!

Bleibe mit dem XPLR: Newsletter immer auf dem Laufenden!

Newsletter abonnieren