Julia Leeb: „Mein ganzes Leben hieß es: Das geht nicht. Es geht aber alles“

Von Julia Hägele

Die Fotojournalistin Julia Leeb / Foto: Kieran E.Scott / Elisabeth Sandmann Verlag

Die Fotojournalistin und Filmemacherin Julia Leeb dokumentiert Kriegsgeschehen und Revolutionen. Ihr Buch „Menschlichkeit in Zeiten der Angst“ erzählt von ihren abenteuerlichen Reisen. Im Interview spricht sie darüber, wer sie am meisten beeindruckt hat, was eine 360-Grad-Aufnahme besser kann als ein klassisches Bild und was Heimat für sie bedeutet.

Frau Leeb, sind Sie ein furchtloser Mensch?

Julia Leeb: Nein. Angst ist menschlich und kann ein guter Ratgeber sein. Angst kann aber auch lähmen, deshalb ist es Ermessenssache, inwieweit man bereit ist, die Ängste zu durchwandern. Ich verlasse mich oft auf meine Intuition. Meine Themen liegen oft hinter der Angst.

Sie haben politische Unruhen unter anderem im Kongo, in Ägypten, Syrien, Libyen, Afghanistan, im Südsudan und im Iran dokumentiert – was treibt Sie zu instabilen Orten?

Leeb: Zwischen den Welten zu pendeln war mir schon immer ein großes Bedürfnis. Wir sehen nur die Menschen, die online sind oder in den Medien gezeigt werden. Aber die Welt ist groß – ich will sie verstehen, mit eigenen Augen sehen und diejenigen zeigen, die nicht von selbst sichtbar sind.

Haben Sie das Gefühl, dass die Welt durch die Digitalisierung zusammengewachsen ist?

Leeb: Es sind eigentlich immer die Gleichen, die zusammenwachsen. Aktivisten, die in einer Diktatur leben, können nicht einfach mal ein Selfie hochladen oder ihre Meinung auf Facebook posten. Wir sehen sie nicht und trotzdem sind sie da. Es ist ein Trugschluss, zu denken, dass die Welt überall so tickt wie bei uns.

„Im Prinzip hilft die 360-Grad-Technik, dem Journalismus seine Glaubwürdigkeit zurückzugeben.“

Für Ihre Arbeit nutzen Sie oft auch XR Technologie – wie genau?

Leeb: Ich arbeite mit einer 360-Grad-Kamera. So können sich die Leser:innen und Zuschauer:innen selbst ein Bild von vor Ort machen. 360-Grad-Aufnahmen schafft Transparenz. Gerade im Journalismus ist es wichtig, dass die Leute sehen, dass ich nichts verstecke. Im Prinzip hilft die 360-Grad-Technik, dem Journalismus seine Glaubwürdigkeit zurückzugeben.

Mich hat immer interessiert: Was ist passiert außerhalb des Fotos? 360-Grad-Aufnahmen sind die Antwort darauf. Jedes Medium, das wir kennen, hat einen Rahmen – sei es der Computer, das Ölgemälde oder die Zeitung. 360° ist die Befreiung aus der Umrandung, das ist die Revolution. Im Kongo sehe ich zum Beispiel eine Frau vor mir, die mit mir spricht. Doch ich kann mich im 360° umdrehen, sehe Männer mit Kalaschnikows herumlaufen, viele Kinder ohne Schuhe. Unten sehe ich den Lehmboden. Das erzählt mehr als ein klassisches Foto der Frau.

Sie sagten in einem Interview, Mama Masika sei die Person gewesen, die Sie in Ihrem bisherigen Leben am meisten beeindruckt hat. Wer ist Sie?

Leeb: Mama Masika aus dem Kongo hat das Schlimmste erlebt, was man als Mensch und als Frau erleben kann. Sie wurde mehrfach vergewaltigt und musste zusehen, wie ihre Kinder vergewaltigt wurden und wie ihr Mann umgebracht wurde. Eine Vergewaltigung ist nicht nur eine körperliche Misshandlung, sondern auch eine seelische Vernichtungstat. Die Frau hätte allen Grund gehabt, für den Rest ihres Lebens zu hassen, sich zu rächen oder wie viele andere Frauen Autoaggressionen aufzubauen. Aber sie hat sich entschieden, sich dem Guten zuzuwenden und ein Heim für tausende Vergewaltigungsopfer gebaut, die dort sicher und stark sein können. Mama Masika hat ein Tabu gebrochen: Sie hat begonnen, die Täter zu stigmatisieren und nicht die Opfer.

Mama Masika / Foto: Julia Leeb

„Für Frauen ist der Krieg nicht vorbei, wenn die letzte Bombe gefallen ist“ schreiben Sie in Ihrem Buch. Können Sie beschreiben, warum Sie gerade die Frauen in Kriegsgebieten interessieren?

Leeb: Extremsituationen verstärken die guten und schlechten Seiten aller Menschen. Im Krieg gibt es Leute, die töten, und es gibt Leute, die heilen und trösten, die lehren, Geschichten erzählen, Zuversicht spenden, die vergeben können. Letztere denken ans Große und Ganze. Und meiner Erfahrung nach gehören zur letzteren Gruppe viele Frauen oder auch Ärzt:innen. Sie haben bei Verhandlungen meist nichts zu melden, das ist für mich nicht nachvollziehbar. Es sind meist die Täter, die das Sagen haben. Die, die zerstört haben und nicht die, die aufrecht erhalten haben. Ich habe es mir zur Aufgabe macht, diese Menschen ins Licht zu stellen und die echten Held:innen zu zeigen.

Zu Ihren Vorbildern zählt unter anderem die Fotografin Anja Niedringhaus. Sie kam bei der gleichen Arbeit, die Sie ausüben, um. Ist die Angst vor dem Tod in Ihrer Arbeit präsent oder denken Sie an so etwas gar nicht?

Leeb: Jeder will überleben, das haben Menschen so an sich. Man muss einen Weg finden, mit der Angst umzugehen, sonst ist man gehemmt. Ich hätte nie gedacht, dass Anja Niedringhaus etwas passiert. Sie wurde 2014 einen Tag vor der afghanischen Präsidentschaftswahl umgebracht. Die Wahl galt nicht unbedingt als sehr gefährlich. Das zeigt, das dieser Beruf unkontrollierbar ist, egal, wie lange man ihn ausübt und wie gut man sich auskennt.

Sie schreiben auch, sie reisen nicht, um vom Krieg zu erzählen, sondern davon, was der Krieg mit den Menschen macht. Gibt es etwas, das alle Konflikte gemein haben?

Leeb: Was man sagen kann, ist, dass die meisten Kriege etwas mit Ressourcen und Macht zu tun haben. Menschen sind überall wunderbar und brutal, sie können vergeben und vernichten, können verunsichern und trösten. Dem Geheimnis Mensch komme ich einfach nicht auf die Schliche.

Soldat des Warlords / Foto: Julia Leeb

Kennen Sie auch kreative Krisen, Prokrastination und Passivität?

Leeb: In meinem Kopf zumindest geht es immer voran, ich habe tausend Ideen und viele Projekte. Das hört nie auf, um ehrlich zu sein, ist das manchmal auch ein Fluch. Aber meistens ist es ein Geschenk, Ideen und Energie zu haben. Was mich frustriert, ist, wenn Projekte an der Bürokratie scheitern. Ich arbeite aber international mit tollen Leuten zusammen, die fast immer einen Weg finden.

Wie gehen Sie mit Widerständen um?

Leeb: Mein ganzes Leben wurde mir gesagt, das geht nicht. Ich kann nicht 360-Grad-Filmen, ich kann hier und dort nicht hinfahren, weil es keine Infrastruktur gibt oder weil ich eine Frau bin. Wenn ich darauf gehört hätte, würde ich heute noch warten. Überall wo Menschen leben, gibt es Möglichkeiten. Ich wollte zum Beispiel in die Nuba-Berge im Sudan. Das geht nicht, es gibt keine Flüge, hieß es. Ein Frachtflugzeug brachte aber Medikamente in die Region. Und dann ging es eben doch.

Sie haben unzählige Länder bereist – wie würden Sie Heimat für sich beschreiben?

Leeb: Heimat ist für mich primär an Menschen, Kultur und Natur gebunden. Ich mag die Jahreszeiten und die Alpen. Ich habe in Madrid studiert, dort hat man mich „Heidi“ genannt, weil ich einmal gesagt habe, dass ich die Berge vermisse.

Ihr Buch haben Sie Ihrer Familie gewidmet. Was bedeutet Familie für Sie?

Leeb: Meine Familie ist mein emotionales Fundament.

Halten Sie Kontakt, wenn Sie unterwegs sind?

Leeb: Nein, sie wissen nicht Bescheid Ich kann sie ja nicht mit reinziehen. Sie könnten mir ja gar nicht helfen, wenn etwas passieren würde. Ich tauche unter und bin von einem auf den anderen Tag einfach weg. Da gibt es natürlich viel Unverständnis, aber irgendwann haben sie es akzeptiert.

Erinnern Sie sich eigentlich an Ihre erste Kamera?

Leeb: Meine Schwester und ich bekamen einen kleinen analogen Fotoapparat geschenkt, in den man einen Film eingelegt hat. Man hat damals ja noch zwei Wochen gewartet, bis der Film entwickelt war – ein richtiges Ereignis. Seither faszinieren mich Bilder und das, was sie erzählen.

"Menschlichkeit in Zeiten der Angst" ist im Suhrkamp Verlag erschienen.

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